Heute schon gestresst?

(Eine etwas andere Sichtweise zum Thema Stress)

Job-, Beziehungs-, Freizeitstress – was für Stress hast Du gerade? Heute ist alles Stress. Sogar die schönsten Dinge des Lebens. Und selbst wer keinen Stress hat, redet darüber. Warum eigentlich?

Dürfte ich das Unwort des Jahres wählen, müsste ich nicht lange überlegen. Ich würde mich für „Stress“ entscheiden.
Egal, ob sich Gespräche um Arbeit, Freizeit, Familien- oder Liebesleben drehen – alles ist stressig. Selbst angenehme Dinge bedeuten für viele Hektik, Zeitmangel und Atemnot. Stress ist zu einer wahren Epidemie geworden. Manchmal frage ich mich, woher das kommt.
Das Stressvirus ist übergesprungen, ohne dass derjenige, der seine Überforderung wie ein Mantra vor sich hin spricht, sich selbst etwas Gutes damit tut.
Unsere Grossmütter kannten das Wort Stress nicht!
Diese allgemeine Zurückhaltung änderte sich schlagartig, nachdem 1950 ein Buch mit dem Titel „Stress“ erschien. Erstmals tauchte das Wort in den Medien auf. Es gab Radioreportagen und Zeitungsberichte darüber, und plötzlich wurde es richtiggehend schick, „gestresst“ zu sein. Eingebrockt hat uns diesen Begriff, der seitdem unser ganzes Leben verändert hat, Professor Hans Selye, ein Mediziner und Hormonforscher aus Montreal. Jahrelang hatte er die Mechanismen untersucht, mit denen sich unser Körper an innere und äußere Veränderungen anpasst. Bereits 1936 beschrieb er in der Zeitschrift „Nature“ eine „Alarmreaktion“ des Körpers auf Reize, die lebenswichtige Funktionen wie Blutdruck und Temperatur aus der Balance bringen. Ein ganz normaler Vorgang, über den man sich keine Sorgen machen müsste. Nur wenn die Reize, die Anforderungen an den Körper, nicht endeten, so der Wissenschaftler, würden sie irgendwann zu Ãœberforderungen. Dann liefe unser Organismus ständig auf Hochtouren, was irgendwann zu Problemen führen könnte.

Längst reicht es nicht mehr zu sagen: „Ich brauche eine Pause, weil ich müde bin.“ Inzwischen werden sowohl Hormonstatus als auch Blutbeschaffenheit genau gemessen, genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse detailliert geklärt und daraus entsprechende Therapieempfehlun-gen abgeleitet. Auch die Palette von Angeboten, um den Auswirkungen alltäglicher Belastung entgegenzuwirken, wird ständig breiter. Wir fasten und meditieren, lassen uns in Sauna und Spa Körper und Seele wärmen, gehen zu Reiki, Kinesiologie und Chakra-Therapie. Die Wellnessbranche freut sich, mit Stress lässt sich viel Geld verdienen. Doch was bringt es uns letztendlich? Häufig nur einen noch engeren Zeitplan und noch mehr Stress im Alltag. Unser Körper unterscheidet nämlich nicht zwischen „schönen“ und „schlechten“ Belastungen. Auch euphorische Gefühle, wie frisch verliebt zu sein oder einen neuen Job zu haben (die Fachleute sprechen von beflügelndem „Eustress“), setzen die gleichen Reaktionen in Gang wie Straßenlärm oder Streit mit dem Partner („Disstress“ genannt).

Doch bis es so weit kommt, müssen wir lange Zeit extremer Überforderung ausgesetzt sein. Erst dann geben sich die körpereigenen Abwehrstrategien geschlagen. Natürlich gehen berufliche und private Probleme nicht spurlos an uns vorbei. Fest steht zudem, dass wir nicht bewusst steuern können, wie stark unser Körper auf bestimmte Anforderungen reagiert.
Wir können alle lernen, besser mit Belastungen umzugehen und Anspannung abzubauen. Viele machen gute Erfahrungen mit Sport, der zivilisierten Versi-on der Fight-or-Flight-Reaktion. Nach einem Dauerlauf ist die überschüssige Energie, die der Organismus als Reaktion auf die täglichen Anforderungen produziert, abgebaut, und wir fühlen uns entspannt und ausgeglichen. Andere erlernen klassische Entspannungsmethoden wie autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation. Und wieder andere entwickeln eigene Abwehrstrategien wie Abendspaziergänge oder Klavierspielen. Doch für einen entspannten Umgang mit Stress ist noch etwas anderes entscheidend: nicht dauernd darüber reden. Das setzt jedoch ein Umdenken voraus und Mut zum Imagewandel. Denn wahrscheinlich geht es bei den Klagen über unsere Dauerbelastung gar nicht so sehr um die Beschreibung körperlicher und mentaler Befindlichkeiten. Stress ist heute ein Statussymbol. Wer seinen Alltag ohne Hektik meistert, kommt schnell in den Verdacht, nicht engagiert genug zu sein.

Wer Entspannung pur sucht, kommt oft aktiv und abenteuerlich besser ans Ziel

Yoga, Qi-Gong, Meditation. Entspannungsklassiker aus Fernost sind sehr beliebt. Doch nicht für alle sind sie der Königsweg. „Bei körperlich angespannten und emotional überreizten Menschen können diese Techniken eine innere Unruhe sogar verstärken.
Mit Gewalt entspannen geht nicht. Om-Singen und Auf-der-Matte-Liegen sind dann erst recht Stress. Viele Menschen können nicht still sitzen.
Die „Künste der Langsamkeit“ sind deshalb nicht jedem zugänglich. Das hat meist weniger mit Persönlichkeit und Temperament zu tun als vielmehr mit den Belastungen, denen jeder ausgesetzt ist.
Menschen, die den ganzen Tag im Büro sitzen und geistig aktiv sind, sollten sich zum Ausgleich nicht wieder ruhig verhalten und mental weiterarbeiten.
Sie brauchen ein Kontrastprogramm, um zu entspannen. Und oft erst einmal eine Dosis Anspannung, um dann loslassen zu können. Gut ist es, die richtige Mischung von geistiger und körperlicher Herausforderung, Ruhe und Aktion zu finden. Bewegung ist wunderbar, um Stresshormone abzubauen. Wem es aber an positiven sozialen Kontakten fehlt, der macht besser Sport in der Gruppe, statt allein zu joggen. Und wer sich in einem Routinejob langweilt oder den Grübelkreisel im Kopf kaum stoppen kann, den entspannt wahrscheinlich eine kreative Beschäftigung oder ein Gehirntraining eher als die Konzentration auf ein Meditationsmantra. Auch eine Abenteuersportart kann den nötigen Kick zum Abschalten geben. Entspannung ist etwas ganz Individuelles. Sie lässt sich nicht nur aus Yoga-Asanas und Atemübungen gewinnen.

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