Neue Bücher braucht die Frau 1

In 7 Wochen hab ich 4 Wochen Sommerferien :o)) 2 davon verbringen wir hier und ich muss und will mich so allmählich mit Lesefutter indecken. Denn Ferien heisst für mich immer auch lesen. So oft es geht, so viel es geht! Hier meine Auswahl, vielleicht gefällt Euch ja das einte oder andere auch?

1. *Horchen* von Anke Stelling

Katja lebt mit ihrem Freund Lars in Berlin und werkelt an ihrer Doktorarbeit. Ihre Eltern haben sie in der Erziehung mit besten Hilfen zur frühen Selbständigkeit und mit der Anleitung, in sich selber zu horchen überzogen.

Verloren in Orientierungslosigkeit («Ja gut», sagt die Mutter, wenn Katja etwas sagt, «stimmt, aber man kann es auch andersherum betrachten») sucht Katja nach klaren Definitionen und Aufgaben. Ein Kind, denkt sie, würde ihr eine Rolle geben. Als es nach einigen Versuchen nicht zu einer Schwangerschaft kommt, reist sie in die ostsächsische Provinz um eine Jugendliebe zu suchen und lernt Gernot kennen.
Sich klein lassen machen und klein bleiben
Katja verfällt Gernots brüsker Art sofort. Er nimmt sie zum Treffen der Sekte mit, der er angehört, den «Lord’s Followers». Katja findet in diesem Konstrukt eine Rolle und geht darin auf: Seine Regeln werden zu ihren Gesetzen, seine Doppelmoral zum Inhalt ihres Studierens.

Sie kocht für ihn, versucht so zu sein, wie sie annimmt, dass er sie haben möchte, nimmt seine Demütigungen hin, die sie klein machen und bleiben lassen, klein, aber eben in einer Rolle, in der sie weiss, was sie zu tun hat – unter anderem auch, ein Kind in diese kleine Gemeinschaft, die sie nur fühlt und die nicht wirklich existiert, zu gebären.

An die Grenze stossen
Das Buch handelt von einer Frau, die alles andere als naiv ist – das liest man in ihren Reflektionen, den Briefen, die sie gedanklich schreibt, den Dialogen,  die sie mit ihren Eltern und andern führt. Sie ist klug, lebenstüchtig und humorvoll. Nur sucht sie nach einer Rolle und, als sie eine gefunden hat, nach den Grenzen dieser Rolle – die sie schliesslich findet.

«Horchen» ist ein Muss für: Schluckaufbefallene. Die Gefälle zwischen Fühlen, Denken und Handeln können erschrecken – besonders, weil die Autorinnenhand so gut durch die Geschichte führt, dass man sicher ist, dass sie sich genau so zutragen könnte.

2. *How I Fucked Jamal*

17 Geschichten von Autoren aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Russland oder der  Slowakei sind in dieser Anthologie versammelt, der man einzig ihren provokanten Titel vorwerfen kann. Aber vielleicht provoziert das Wort «Fuck» ohnehin niemanden mehr.Die beiden Herausgeberinnen wissen typische Zeitgenössigkeiten für das moderne Erzählen eines alten Themas zu nutzen: Menschen mit flexiblen Wohnsitzen (in den Autorenbiografien findet man Ausdrücke wie «wahlwohnt», «lebt eigentlich», «schreibt zwischen den Kulturen»), die ganz offen über ihren und andere Körper (ein Autor beschreibt die Beschneidung eines Ich-Erzählers im Erwaschenenalter entwaffnend trocken und smart) und Zwischenmenschliches wie Sex zu schreiben.

3. *Im Schneeregen* von Thomas Schenk

Der zarte Band schmilzt beim Lesen zwischen den Fingern, tropft seinen dichten Text direkt in den offenen Leseleib hinein und fliesst ins Herz.

Wenn Sie Thomas Schenk nicht kennen, dann haben Sie … ein Auto. Stimmts? Thomas Schenk hat sich, als er noch für die Verkehrsbetriebe Zürich Tram gefahren ist, mit seinen Kolumnen – Beobachtungen eines Tramchauffeurs – die in «20Minuten» erschienen sind, in die Herzen der Pendler geschrieben. Im Limmat-Verlag erschien 2007 die Sammlung schliesslich unter dem Titel «Im Tram. Anleitung zum Vorwärtskommen». Tempi passati.

Der 1966 in Baselland aufgewachsene Journalist und PR-Berater hat mit «Im Schneeregen» ein Romandebüt vorgelegt, das nichts mit Tramfahren oder Verkehrsregeln zu tun hat. In diesem Buch-Bjoux mit seinem bezaubernden Cover (in weiss gehalten, zwei Kissen auf einem Bett sind zu Bergen aufgeschüttelt) geht es um ein Phänomen: Man glaubt, das Leben unter Kontrolle zu haben, wenn man auch die allerkleinsten täglichen Verrichtungen plangemäss durchführt.

Hauptfigur Matthias Schwitter ist organisiert: Wohnung, Arbeit, Sport, Ernährung – alles in der vermutet richtigen Menge zur vermutet richtigen Zeit. Mit Beatrice tritt eine Frau in sein Leben, die spontan agiert, einfach «draufloslebt».

Schwitter fügt sich seiner Zuneigung wegen und die Kontrolle schlittert ihm davon: Die Lebensmittel verderben, er liest die Zeitung nicht mehr. Er fürchtet sich davor, dass dadurch «etwas» geschehen könnte, irgendetwas, das nicht geschieht – oder doch? Man findet Schwitter zwischen Einsiedeln und Iberegg im Wald, an eine Tanne gelehnt. Unversehrt, bis auf die Erschöpfung und Unterkühlung und einen verletzten Fuss.

Das Buch zeigt mit dichter Sprache Schwitters Weg bis zur Tanne und ein Stück seines Weges danach. Und wenn Schenk schreibt, dass Schnee und Regen in all ihren Formen in Worte gefasst worden sind, der Schneeregen aber nicht, liest sich das wie eine Metapher: Dass wir glauben, die Dinge kontrollieren zu können – bis sie ihre Form ändern.

4. *Das Glück in glücksfernen Zeiten* von Wilhelm Genazino

Es liest sich, als würde man heisse Milch mit Honig und einem Schuss Chili schlürfen: warm, süss, scharf gewürzt.

Der Roman gaukelt nicht vor, dass man das Leben meistern kann und dabei unversehrt bleibt. Er schildert, dass das Glück so schnell verschwindet, wie es gekommen ist, und dass es an uns ist, das es zu suchen – in der Zwischenmenschlichkeit, in den Bildern, die uns täglich überfluten, in der Umwelt, in unserem Umfeld.

Das Glück in den kleinen Details. Das sieht Gerhard Warlich, die Hauptfigur der Geschichte. Er 41 Jahre alt, studierter Philosoph, Geschäftsführer einer Grosswäscherei und seit Jahren mit der hübschen und gescheiten Traudel liiert. Doch der von ihr für ihn aus heiterhellem Himmel geäusserte Kinderwunsch kommt ihm quer. Er will kein Kind. Und das enttäuscht seine Traudel restlos.

Von da an, scheint es, schlittert ihm das sogenannte grosse Glück aus den Händen – oder lässt er es schlittern? – er verliert seinen Job und sagt, dass er nur darauf gewartet habe, dass ihm jemand auf die Schliche komme, er habe sich viel zu oft freie Zeit herausgeschunden. Um tagzuträumen.

Ihm ist nicht nach einem neuen Job. Würde man fürs Beobachten und das Wahrnehmen kleiner Schönheiten bezahlt, müsste Gerhard Wahrlich ohnehin keine neue Stelle suchen. Er sieht alles: kleine Ameisenköniginnen, schöne stolze alte Damen, er sieht Farben und Formen, scheinbare Zufälligkeiten im Leben.

Doch er verliert sich in seinen sich überlagernden, wunderbaren, originellen Gedanken, die den Leserinnen und Lesern frische Luft in den Kopf blasen und Traudel weiss sich nicht anders zu helfen, als Gerhard in die psychatrische Klinik einweisen zu lassen. Und weil seine Gedanken so genial, neu und wunderschön sind und man sie begehren muss, geht man als Leser mit ihm mit.

One comment on “Neue Bücher braucht die Frau

  1. Reply Pia Mai 27,2010

    Buch 2 ist wirklich gut.

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