Nichts ist nicht Nichts

Das Leben bringt Probleme mit sich – und die wollen wir gelöst haben. Am liebsten schnell, effi zient und falls möglich mit einer einzigen Therapie oder Tablette. Aber ist das wirklich «die» Lösung?

Je tiefer wir die eigene Leerheit berühren, desto stärker suchen wir nach einer Erklärung. Uns treibt der Wunsch, einen zutage tretenden Konflikt beizulegen. Dieser Konflikt entsteht zwischen der Auffassung eines festgefügten Selbst und der offensichtlichen Leere, die wir entdeckt haben. Leere wird in diesem Zusammenhang wahrgenommen als psychologischer Schmerz.

Damit betreten wir gefährliches Terrain. Wir sind verwirrt. Auf der Suche nach Hilfe sehnen wir uns nach einem Führer. Ein Führer bietet sich an in der Gestalt eines Psychologen, Familientherapeuten oder Psychiaters. Sind wir uns bewusst, dass wir drauf und dran sind, eine religiöse Entscheidung zu treffen? Die direkte Verbindung zu dem, wer wir sind, geben wir auf und tauschen sie ein gegen ein Erklärungsmodell, das sich herleitet aus wechselseitigen Übereinkünften, aus Mythen und gesellschaftlichem Druck. Ist uns bewusst, dass die Sichtweise des Therapeuten uns verändern wird? Wir werden zu dem werden, woran der Therapeut glaubt.

Zum Schreien

Wir werden untersucht, wir werden behandelt und womöglich werden wir geheilt. Vielleicht werden uns Medikamente verabreicht, vielleicht Erklärungsmodelle, vielleicht werden uns therapeutische Massnahmen verschrieben. Es kommt zu Kreativitättrainings und zu Hausaufgaben; wir bekommen ein Kissen zum Hineinschreien, Delfine, um mit ihnen zu schwimmen. Was geschieht dabei wirklich?

Das Selbst, das vermeintliche Zentrum, wird durch die Therapie verstärkt, die Leere wird verleugnet. Wir werden zu funktionierenden Produktivkräften geformt, wir werden wieder fähig zu Arbeit und Fortpflanzung, wir sind bereit für Alter und Tod. Leer sind wir noch immer, und das nehmen wir wahr in den Pausen, zwischen der Einnahme von Medikamenten oder zwischen zwei Therapiesitzungen. Die Leere zeigt sich uns als unauslotbarer Schmerz.

Die verschriebene Normalität

Was fehlt beim therapeutischen Verständnis des Geistes? Nichts, wenn es das ist, was wir wollen: eine Verschiebung der Probleme ohne grundlegende Lösung. An der Therapie ist nichts falsch. Wir sollten bloss nicht vergessen, dass die Therapie nie zu Ende sein wird und dass ihr Zweck darin liegt, uns vom Druck des Konflikts zu erleichtern, sodass wir wieder normal funktionieren. Ist es das, was wir leben wollen, die Normalität, welche uns hier verschrieben wird?

Weil das Denken als ein isolierter mechanischer Vorgang verstanden wird, der unabhängig von seiner Umgebung abläuft, ist es der Psychiatrie nicht möglich, den grösseren Zusammenhang zu erfassen. Das rührt daher, dass dieser grössere Zusammenhang der Wissenschaft ganz allgemein nicht bekannt ist. So verblüffend es auch scheint, für Bewusstsein gibt es in der Wissenschaft kein Modell. Es gibt keine allgemeine Feldtheorie für das Bewusstsein. Das ist so, obwohl das Bewusstsein der Kontext ist, in dem sich der Geist und sämtliche seiner Erscheinungen – einschliesslich Wissenschaft und Psychiatrie – entfalten.

In der Welt der Therapie gibt es keine grundlegenden Lösungen. So etwas hat es nie gegeben. Wenn wir psychologische Konflikte lösen wollen, müssen wir uns anderswohin wenden. Erstens müssen wir erkennen, wie unser Konzept von Zeit dazu beiträgt, seelische Strukturen aufrechtzuerhalten und sie zu verewigen. Ohne unsere Auffassung von Zeit gäbe es keine Vorstellung von «besser werden», «es durcharbeiten», «einen psychologischen Prozess durchlaufen» und was der Begriffe mehr sind, um psychologischen Fortschritt auszudrücken. Ohne unsere Auffassung von Zeit gibt es immer nur ein Ereignis aufs Mal. Was geschieht, ereignet sich in der Gegenwart und ist offensichtlich zu erkennen, falls wir es erkennen wollen. Die Hilfe eines Vermittlers ist nicht vonnöten.

Auf Lösungen fixiert

Zeit und Gedächtnis sind zwei Aspekte unseres Denkens. Wenn wir ihr Wechselspiel vollends erfassen, treten die psychologischen Probleme in einer zugänglichen, unmittelbaren Gegenwart hervor. Einen anderen Ort in der Zeit gibt es für sie nicht. Nun, da ein Problem in der unmittelbaren Gegenwart vor uns steht, was fangen wir damit an? Ganz und gar nichts. In Bezug auf ein Problem irgendetwas zu unternehmen heisst, einem Problem Energie und Nahrung zuführen. Wenn wir ein Problem in den Griff bekommen wollen, um es zu manipulieren, die Sache zu verbessern oder sie zum Verschwinden zu bringen, so führt das bloss dazu, dass das Problem sich auf der Ebene unserer Wirklichkeit verfestigt. Wir haben das Problem verfestigt, indem wir uns auf seine Lösung fixiert haben. Und weil sich die angestrebte Lösung nicht einstellen will, haben wir auch noch ein zusätzliches Problem geschaffen. Was geschieht, wenn wir nichts tun? Nichts. Das Problem hat niemanden, den es in Anspruch nehmen könnte. Es fehlt ihm die Energie. Es fehlt ihm ein Gegner. So vermag es nicht mehr länger zu existieren. Es ist nicht mehr Teil unserer Wirklichkeit.

Also hat Max Goldt, der deutsche Kabarettist und Schriftsteller doch recht: Versuche nicht, Deine Probleme zu lösen – geniesse sie! Das ist die Lösung. Möglich ist sie nur in der Gegenwart. Wir brauchen dazu keine Hilfe. Was von uns verlangt wird, ist nicht mehr als unsere Stille – doch das ist sehr viel.

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