Raus aus dem Haus

Einfach mal wieder raus. Sich für ein paar Stunden aus dem Alltag ausklinken, Wolken zählen. Gar nicht so einfach? Stimmt. Probieren sollten wir es trotzdem. Trotz quengelnder Kinder. Immer wieder. Muse macht nämlich nicht nur gesund und glücklich, sondern auch ein bisschen unsterblich.

Am Ende wird alles genau richtig sein. Das Wasser. Der Himmel. Die Stille. Ich weiss. Genau deshalb bin ich ja heute hierher gewalkt, zum Waldsee, eine Stunde von meinem Haus entfernt.
Habe mein Handy zu Hause gelassen, nichts soll hier draußen klingeln, ticken, stören, ablenken. Dieser Tag ist ein Geschenk. Von mir an mich selbst. Als Belohnung für den Stress und die Hektik der letzten Wochen. Ein unendliches Meer unverplanter Zeit, in dem ich mich treiben lassen darf, in welche Richtung auch immer. Keine Termine, keine Pflichten, keine Verantwortung. Nur ich und der See.

Die Kulisse, in der ich sitze, ist perfekt: Ãœber meinem Kopf rascheln die Blätter, vor meinen Füßen glitzert das Wasser. Die Luft schmeckt nach kalter Erde. Und der Baumstamm in meinem Rücken fühlt sich so fest und beruhigend an wie die dicke Haut einer Elefantenmutter. Ganz gefahrlos könnte ich jetzt meine Gedanken von der Leine lassen. Könnte mir wilde Geschichten über die Wolkenfrauen am Horizont zusammenfabulieren, die Mücken über dem Wasser zählen oder mich einfach auf die Wärme des Waldbodens konzentrieren. Doch meine Gedanken spielen einfach nicht mit. Sie weigern sich, mal eben loszuschweben, krallen sich stattdessen pflichtbewusst im Kopf fest und versuchen mit ganzer Kraft, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Darfst du das überhaupt, flüstern sie, müsstest du nicht? Wenigstens das Handy hättest du mitnehmen können! Wenn jetzt jemand Wichtiges anruft…

Ich stehe auf. Muße auf Knopfdruck klappt nicht. Hätte ich irgendwie ahnen können. Einen rasenden Zug kann man auch nicht ohne längeren Bremsweg stoppen. Unser Körper funktioniert ähnlich gemächlich: Damit wir wirklich entspannen können, müssen die Stresshormone im Blut erst mal abgebaut werden. Und das kann dauern. Deshalb fällt uns auch das Abschalten an den ersten Tagen im Urlaub oft so schwer, macht uns die Zeitwüste, die sich angesichts unverplanter Wochenenden plötzlich vor uns ausbreitet, manchmal eher nervös als glücklich.

Also los. Am besten erst mal ein paar Schritte gehen, sich die aufgestaute Energie von der Seele laufen, runterkommen. Trotz der Waldidylle um mich herum fremdeln wir noch ganz schön, die Muße und ich – kein Wunder, wir hatten ja auch lange nichts mehr miteinander zu tun. Es war meine Schuld, ich weiß, nie hatte ich Zeit für sie, immer etwas anderes Dringendes zu erledigen. Packte selbst die Abende und alle Wochenenden mit Verabredungen voll, wurde so zur Meisterin im Multitasking und Terminjonglieren.

Freiwillig oder weil es nicht anders geht. Etwa, wenn neben dem Beruf auch noch eine Familie zu managen ist. Oder weil man sich mit mehreren Jobs gleichzeitig über Wasser halten muss.

Die Muße, das scheue Geschöpf, zieht sich bei all der Hektik aus unserem Leben zurück. Hinterherlaufen, nein, das tut sie keinem, sie weiß doch, wer sie ist. Generationen von Philosophen und Dichtern haben ihr schon gehuldigt, als „Schwester der Freiheit“ verehrte sie Aristoteles, als „Mutter aller Musen“ betete Goethe sie an. Lange Zeit galt das Nichtstun als einzig wahre Glückseligkeit, der Müßiggang als edelste aller Daseinsformen. Erst als Protestantismus und Geldwirtschaft die Arbeit zum eigentlichen Sinn des Lebens adelten, büßte die Muße ihren guten Ruf ein.

Interessanterweise erlebt sie seit einigen Jahren eine Renaissance – just im Zeitalter ihrer ärgsten Feinde Handy und Internet, die vorgeben, Zeit zu schenken, und sie uns dann doch eher rauben. Bücher werden der Faulheit gewidmet, Vereine zur Pflege des Nichtstuns gegründet, Klosterzellen vermietet, in denen ausgepumpte Stress-Opfer wieder Kraft tanken sollen. Die Sehnsucht war wahrscheinlich einfach zu groß, außerdem steht Goethes Schwärmerei mittlerweile auf wissenschaftlichen Füßen: Muße macht tatsächlich kreativ – nur wenn wir unserem Gehirn ab und zu eine totale Auszeit gönnen, kann es sich neu vernetzen und auf nie geahnte Lösungen stoßen. Ãœberlebenswichtig ist das Ausklinken zudem: Wer durcharbeitet, wird nicht nur rastlos und depressiv, der Dauerstress ist auch verantwortlich für die meisten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, für Infarkte, Schlaganfälle, Krebs.

Wann war ich eigentlich das letzte Mal hier ? Vergangenen Sommer? Oder war es schon der vorletzte? Ich weiß es nicht mehr genau. Die Zeit ist zu einer konturlosen Masse zerflossen, zu viel Geplantes, Routiniertes, zu wenig Ich-mach-einfach-worauf-ich-Lust-habe. Als Kind fiel das so leicht. Langeweile war mal das Aufregendste der Welt, eine Bühne für die größten Abenteuer, die kühnsten Gedankenreisen. Warum haben wir jetzt so viel Angst vor den weißen Flecken in unserem Terminkalender, dass wir ganz schnell „Kino“ oder „Yogakurs“ dort eintragen müssen? Wieso warten wir nicht einfach, was die Zeit wohl bringt? Und, hallo?, weshalb zermartere ich mir darüber eigentlich den Kopf, anstatt endlich das zu tun, wonach mir die ganze Zeit ist?

Später auf dem Steg. Die Sonne nimmt meine Grübeleien einfach mit in den Äther. Ich bleibe als warmes, glückliches Bündel Mensch zurück. Es geht also doch noch: einfach mal rein gar nichts tun. Die Seele zum Lüften nach draußen hängen. Ohne schlechtes Gewissen. Ohne Gedanken an das, was war, und das, was kommt. Nur: hier und jetzt. Vielleicht braucht es dazu einfach ein wenig Geduld. Und Ãœbung. Nicht nur sonntags im Wald, auch abends auf dem Balkon, mittags auf der Parkbank, mal eben zwischen zwei Telefonaten am Schreibtisch. Den Film, der um uns herum tobt, kurz ausschalten, spüren, was Leben außer Arbeit und Alltag sonst noch alles sein kann. „Einen Tag ungestört in Muße zu verleben heißt einen Tag lang ein Unsterblicher zu sein“, sagt man in China. Gibt es ein besseres Argument?

Text: Kristina Maroldt

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