Anmerkung zu Jörg Blech im SPIEGEL vom 26.05.2014 „Schlaue Pillen, die dumm machen?“
Dummer Journalismus, der schlau macht
Manchmal erscheint es gut, dem Gehirn mit etwas Lesen zu helfen. Einige Journalisten, die an der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden, können erst mit dem ununterbrochenen Schreiben des Ewiggleichen aufhören, wenn sie jeden Tag auch mal was lesen – sagen zumindest etliche Redaktionen seriöser Zeitungen und Zeitschriften. Leider sank in Deutschland die Tagesdosis gelesener Wörter innerhalb eines Jahrzehnts auf 0,00007 Bücher, knapp eine Seite Boulevardjournalismus, 13 SMS- oder WhatsAPP-Nachrichten, fast 21 Facebook-Posts (Bilder anschauen mitgerechnet) sowie 0,05 Seiten Online-Rechnungen. Bei Journalisten ist der Niedergang der Leseleistung noch weitaus erschreckender. Las Egon Kisch in seinen besten Jahren noch 23-mal mehr als er schrieb, hat sich das Verhältnis bei Jörg Blech inzwischen umgekehrt. Wiederholungen eingerechnet, liegt die „Information Recycling Rate“ (IRR) der Psychofalle, in die seine Leser regelmäßig tappen, bei über 150 Lesern pro Reprint desselben Satzes, der alle Blech’schen Werke durchzieht: „Die Psychiatrie ist soweit fortgeschritten, dass es kaum mehr Normale gibt.“
Von den naiven Lesern der Blechtrommel ist freilich nicht jeder psychisch gestört – und erst recht gilt das für die rund 2 Millionen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die von der ADHS betroffen sind. Neuerdings lesen auch medizinische Laien wissenschaftliche Publikationen zu Erkrankungen und Therapieformen – freiwillig. In einer Selbsthilfegruppe des ADHS Deutschland e.V. gab etwa jedes fünfte befragte Mitglied zu, das Lesen von Fachliteratur der Lektüre pseudowissenschaftlicher Erregungsliteratur von Boulevardjournalisten vorzuziehen, um besser informiert zu sein. Es ist leichter denn je, an Fachliteratur zu kommen, da das Internet den Zugang gerade erleichtert hat.
Nun erfüllen (nach Jahrzehnten bevormundender Regelung des Umgangs mit medizinischem Wissen in Deutschland) auch Betroffene die Kriterien zum qualifizierten Selbstempfinden ihrer psychischen Verfassung – wie groß der unmündige Patient von einst doch geworden ist! Das Unheimliche am inflationären eigenständigen Erleben und Erlesen ist, dass etliche Journalisten so handeln, als wären sie alleine berufen, den Menschen zu erklären, was Normalität und was Krankheit ist, wie Gesundheit und Krankheit sich anfühlen, welches Leid behandelt werden darf und welches erduldet werden muss. Dabei könnten sie es besser wissen: Weil Lesen einen ideologischen Standpunkt zu einem Horizont mit einem Radius größer null zu erweitern vermag. Weil kritische Denker und engagierte Leser das ganze Potenzial ihrer Selbstbestimmung ausschöpfen. Blutdruck und Puls können als Folge des Lesens von in den Massenmedien tagtäglich publiziertem Unfug über die ADHS steigen, was bisweilen kein Schaden ist, solange es die Vernunft befördert.
Insbesondere der positive Einfluss eigenständigen Denkens und Lesens auf das sich entwickelnde Gehirn könnte teuer erkauft und dennoch jeden Cent wert sein, warnen Medienkritiker: Lesen könnte das Verhalten der Informierten dauerhaft verändern – dahin, dass sie sich mit den sie betreffenden Angelegenheiten eigenständig und selbstbewusst auseinandersetzen. Damit nutzen Leser (ADHS-Betroffene und alle anderen) ihre geistige Beweglichkeit, für sich selbst zu entscheiden, was ihnen hilft. Jetzt können sie angemessen auf andere Menschen zugehen und neue Situationen selbst bewältigen. Diese Risiken sollten alle Verleger kennen, die Blechlawinen lostreten, um weiter von der informationellen Unmündigkeit ihrer Leser und hohen Auflagen durch schlichte Abarbeitung journalistischer Moden zu profitieren. Andernfalls sind jene Menschen, die durch die Rezeption von Fachliteratur zum Kenner der ureigenen Materie wurden, am Ende die Schlauen und die Journalisten die Dummen.
Merke: Schreiben ist Silber, Lesen ist Gold.
Via ADHS Deutschland