Wohin mit der Wut?? 1

Wut ist ein starkes Gefühl. Wut ist ein Signal, auf das wir hören sollten. Unsere Wut kann eine Botschaft enthalten: dass wir gekränkt sind, daß unsere Rechte verletzt, unsere Bedürfnisse und Wünsche nicht angemessen befriedigt werden, oder einfach, daß etwas nicht stimmt.
Vielleicht sagt uns unsere Wut, dass wir ein wichtiges emotionales Problem in unserem Leben nicht angehen oder dass wir ein einer Partnerschaft zuviel von unserer Persönlichkeit, unseren Überzeugungen, Wertvorstellungen, Sehnsüchten aufgeben.

Unsere Aggressionen können ein Zeichen dafür sein, dass wir mehr tun und mehr geben, als wir tun oder geben wollen und eigentlich können. Vielleicht warnt uns unsere Wut auch davor, dass andere zuviel für uns tun, auf Kosten unserer eigenen Kompetenz und unserer persönlichen Entwicklung. So wie der physische Schmerz uns zum Beispiel sagt, dass wir die Hand vom heissen Ofen nehmen müssen, und so den Körper schützt, beschützt uns der Schmerz, der unsere Wut auslöst, den Kern unserer Ich-Integrität. Unsere Wut kann uns motivieren, zu den Vorstellungen, die andere von uns haben, „nein“ zu sagen und die Forderungen unseres inneren Selbst zu bejahen.

Die gesellschaftliche Tradition hält jedoch vor allem Frauen davon ab, sich ihrer Wut bewusst zu werden und ihr offen Ausdruck zu geben. Wir Frauen sind zum Behüten, Schützen, Trösten, Friedenstiften da – wir müssen das Gleichgewicht wieder herstellen, wenn die Dinge ins Wanken geraten sind. Unsere Aufgabe ist es, der Welt zu gefallen, zu beschwichtigen und zu bewahren. Wir sind fähig, Beziehungen aufrechtzuerhalten, als ob unser Leben davon abhinge.

Besonders Frauen, die ihre Aggressionen Männern gegenüber äussern, sind verdächtig. Unseren Gleichheitsbestrebungen bringt die Gesellschaft zwar Verständnis entgegen, aber wir sind uns doch alle darüber im klaren, dass diese „Emanzen“ jedem auf die Nerven gehen. Im Gegensatz zu unseren glorifizierten Helden, die für ihre Ãœberzeugungen kämpfen und sogar sterben, werden Frauen schon für ihre eigenen Rechte in Grund und Boden verdammt. Die direkte Äusserung von Zorn, besonders Männern gegenüber, ist nicht damenhaft, sie macht uns unweiblich und unattraktiv. Frauen, die ihre Aggressionen offen zeigen, sind „hysterische Weiber“, „Drachen“, „Furien“, „Giftspritzen“, „Zimtzicken“ oder „Kneifzangen“. Sie sind liebesunfähig und kein bisschen liebenswert.

Es ist ein interessanter Nebenaspekt, dass unsere Sprache nicht einen einzigen unschmeichelhaften Begriff zur Bezeichnung von Männern besitzt, die ihre Wut auf Frauen entladen.
Die Tabus, denen unser Zorn und seine Äusserung unterliegen, sind so mächtig, daß es uns schon schwerfällt, auch nur zu merken, daß wir wütend sind. Wenn eine Frau ihre Aggressionen zu zeigen wagt, muss sie mit „Bestrafung“ rechnen. Auf einer Tagung, an der ich kürzlich teilnahm, hielt eine junge Akademikerin einen Vortrag über misshandelte Frauen. Ihre Darstellung enthielt viele neue und interessante Gesichtspunkte, und an der Art, wie sie sprach, zeigte sich auch, wie tief sie persönlich vom Thema Gewalt gegen Frauen betroffen war. Mitten in ihrem Vortrag erhob sich ein bekannter Psychiater, der hinter mir sass, um zu gehen. Im Gehen wandte er sich an seinen Sitznachbarn und verkündete seine Diagnose: „Mein Gott, was für eine emanzipierte Frau!“ Der Tatbestand, den er ermittelt hatte – oder ermittelt zu haben glaubte -, ein zorniger Tonfall, in dem sie sprach, wertete nicht nur ab, was sie zu sagen hatte, sondern stellte auch ihre Art, Frau zu sein, in Frage.

Warum sind wütende Frauen so bedrohlich? Wenn wir schuldbewusst, deprimiert oder voller Selbstzweifel sind, ist die Welt in Ordnung. Wir unternehmen nichts, außer gegen uns selbst, und es ist unwahrscheinlich, daß wir persönliche oder soziale Veränderungen auslösen. Zornige Frauen dagegen können unser aller Leben verändern und in Frage stellen, das hat die Frauenbewegung bewiesen. Und Veränderung macht Angst, selbst denen, die sie aktiv voranzutreiben suchen.

Deshalb fürchten wir unsere Wut; nicht nur weil sie die Ablehnung anderer hervorruft, sondern auch, weil sie uns an die dringende Notwendigkeit von Veränderungen erinnert. Vielleicht versuchen wir dann auszuweichen und stellen uns Fragen, die nur den einen Sinn haben: uns am bewussten Erleben unserer Wut zu hindern, oder sogar, sie gegenstandslos zu machen.“

Harriet G. Lerner ~ „Wohin mit meiner Wut – neue Beziehungsmuster für Frauen“

One comment on “Wohin mit der Wut??

  1. Reply schwarzer Kafka Sep 13,2012

    Liebe Bluetime – danke für diesen Text… obwohl er ja eigentlich traurig, aber ebent wahr ist! Liebs Grüessli von einer hysterischen Furie :-)

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