Heimliche Liebe

„Die heimliche Liebe kann gelingen, das ist weder unmoralisch noch unmöglich. Aber eine Einschränkung gilt doch: Die heimliche Liebe setzt, nicht anders als der konstruktiv gelebte Ehealltag, ein Mindestmass an Reife, an Vernunft, an Bereitschaft voraus, Grenzen zu akzeptieren und sich in menschliche Belastungen einzufühlen. Sie wird riskant, wenn sie versucht, sich wichtiger zu machen als die Hauptbeziehung, und nur zustande kommt, indem diese entwertet wird.“
„Die heimliche Liebe ist weder ganz gut noch ganz böse, sondern eine gemischte Erfahrung für das Paar – aufgedeckt wie nicht aufgedeckt. Nicht aufgedeckt, bietet sie dem einen Partner seinen ersehnten Freiraum, eine Möglichkeit, Neues zu erleben oder alte Erlebnisse aufzufrischen, die (gemessen an der Realität des Paares) nur ihm gehören. Er kehrt erfrischt, entspannt, bereichert an den gemeinsamen Tisch und in das gemeinsame Bett zurück, um so ausgeprägter, je weniger ihn Schuldgefühle plagen und je mehr er von Herzen überzeugt ist, dass das, was er tut, zwar von ihm verantwortet werden muss, aber allein in seiner Verantwortung liegt.

Andererseits geht dem ‚öffentlichen‘ Partner Zeit verloren, wird ihm Libido entzogen, wird ihm vielleicht eine erotische Steigerung vorenthalten, die in der heimlichen Liebe besser gelingt, weil in ihr kein Alltag beschwert. Die Fluchtmöglichkeit kann dazu führen, dass der heimlich Liebende mit mehr Stabilität und Ausdauer seine feste Beziehung führt, als es ihm sonst möglich wäre; sie kann aber auch dieser Beziehung so viel Energie entziehen, dass zu wenig davon übrig bleibt. Gerade die Unsicherheit, ob die nützlichen oder schädlichen Aspekte für die öffentliche Beziehung überwiegen, ist in der heimlichen Liebe gross.“

 

Aus:“Die heimliche Liebe“ von Wolfgang Schmidbauer

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