Liebe radikal

Manche Menschen triffst du nur einmal im Fahrstuhl. Mit anderen hast du ein paar Mal guten Sex und das war es.
Doch dann gibt es jene, die dir wirklich nah kommen werden.
Du sehnst dich nach ihnen und gleichzeitig fürchtest du sie. Du fürchtest, sie wirklich nah an dich heranzulassen, denn du ahnst das Potenzial eurer Begegnung. Diese Menschen haben die Macht, dich im Mark zu berühren und für immer zu verwandeln.

Mit echter Nähe ist es so eine Sache. Sie nimmt dich in einem Moment an die Brust ihres ozeanischen Friedens, um dir im nächsten Augenblick eine brennende Medizin in deine offenen Wunden zu träufeln. Wenn du glaubst, nackte Nähe wäre nur angenehm, wird sie dich enttäuschen. Denn einem anderen Menschen wirklich zu begegnen, bedeutet, in einen klaren Spiegel schauen. Nicht alles, was du darin siehst, wird dir gefallen.
Nähe ist das Tor zu einer Stille, die deinen Verstand (endlich) zum Schweigen bringt.

Nähe ist das Feuer, in dem das kleine Ich zappeln und letztendlich sterben wird. Nähe ist der Arzt, der das Pflaster von deinen alten Wunden reißt, damit sie heilen können.

Nähe kann nähren und schmerzen. Die Kraft des Lebens sucht auch in dir nach einem Weg der Heilung – auf Pfaden, die du meist erst in Nachhinein verstehst. Solange du Nichtvergebenes, Nichtgeheiltes, Unerkanntes in dir trägst, wird das Leben maßgeschneiderte Boten zu dir senden, um dich daran zu erinnern.

Du versuchst dich tapfer zu arrangieren – bis dir einer dieser Menschen über den Weg läuft, die den Schlüssel zur geheimen Kammer deiner tiefsten Sehnsüchte besitzen. Und da ist er wieder, dieser gewaltige Drang nach Nähe, nach VerEINigung. Du versuchst, ihn über diesen Menschen zu stillen, doch er ist nur der Köder. Er entflammt deine Sehnsucht. Erst öffnet er dein Herz, und dann tut er in seiner unvollkommenen Menschlichkeit etwas, das dich wieder in das Loch eines fürchterlichen Urschmerzes schleudert.

Wenn du seine heilige Aufgabe nicht verstehst, wirst du ihn an dieser Stelle anklagen und wieder alle Verteidigungsmauern hochfahren. Dann war sein Dienst umsonst. Denn sein Job ist es nicht, dich zu trösten, sondern dein Herz für die wahre Suche deines Lebens offen zu halten. Er erinnert dich daran, dass du auf einer Reise bist und dein verloren gegangenes Zuhause suchst. Solange du nicht weißt, wer du wirklich bist, wird dich jede echte, starke Beziehung wieder und wieder enttäuschen, Und das ist gut so.

Sei bereit, echte Nähe mit dem anderen mutig zu suchen und dann, wenn es wieder passiert, wenn ihr euch wieder mal von Mensch zu Mensch enttäuscht, auf dem Höhepunkt deines Schmerzes … lass den anderen los und falle nach innen.
Hier findest du endlich DICH.
Und wer sich findet, kann allem nah sein.

(Auszug aus „Liebe radikal“ von Veit Lindau)

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